ESSAY Deutschland, einig Warteland
Von Reinhard Mohr
Wo ist der edle Citoyen?
Zu allem Überdruss wird nun im deutschen Feuilleton seit Wochen auch noch auf den "neuen Bürger" gewartet und über eine "neue Bürgerlichkeit" diskutiert, über alte Tugenden in neuen Zeiten. Solange es draußen stürmt und schneit, haben wir ja ausreichend Gelegenheit dazu.
Man achte wieder mehr auf Formen und Konventionen, heißt es allenthalben, schätze das Schöne und übe auch materiell Bürgersinn, ob mäzenatisch oder durch Sponsoring. Eine gewisse Besinnung auf Tradition und Werte also.
Die neue Bürgerlichkeit könne zugleich "eine Antwort auf das Ende der wohlfahrtsstaatlichen Illusion" sein, meint der Historiker Manfred Hettling. Denn Bürgerlichkeit gründe "auf Prinzipien wie Individualität, Mündigkeit und Selbstorganisation". Also auch auf persönlicher Verantwortung und der aktiven Benutzung des eigenen Verstandes, auf Zivilcourage. Nicht zuletzt: Stolz auf Erreichtes. Identität.
Genau hier aber finden wir in Deutschland immer wieder die schwarzen Löcher der Gesellschaft. Gerade in den Zeiten der Auflösung tradierter sozialer Zusammenhänge, ob in den Familien oder den Betrieben, müssen sich neue Formen von Sinn, Orientierung und Zusammenhalt bilden. Da aber offensichtlich weder Adel noch Proletariat, die großen aussterbenden Klassen, als Vorbilder in Frage kommen - und, mit Verlaub, auch nicht die Caffè-Latte-Boheme vom Prenzlauer Berg - bleibt nur das Bürgertum.
"Wir Kleinbürger" hieß ein Essay von Hans Magnus Enzensberger, der uns alle unter die Fittiche dieser oft abschätzig zitierten Aldi-"Mittelklasse" nahm. Doch so einfach geht es leider nicht. "Wie sollen wir leben? Wofür sollen wir uns engagieren?" Der typische Kleinbürger stelle diese entscheidenden Fragen eben gerade nicht, widerspricht Historiker Hettling. Da müsse schon der neue Bürger her - der wache, kritische, aktive und selbstverantwortliche Citoyen natürlich, nicht der Spießer, schon gar nicht der fette Bourgeois. Gott sei Dank ist der ebenfalls so gut wie ausgestorben.
Bliebe noch ein kleines praktisches Problem: Auch der neue Bürger in seiner ganzen kritisch-kreativen Selbstverantwortlichkeit friert heute Morgen ganz erbärmlich und hat, pardon, die Schnauze voll vom deutschen Winter.
Warten wir also auf den Frühling. Dann wird weiterdiskutiert.
Der Historiker Hettling beschreibt offenbar das vonRhein-Publikationsforum - mit Verlaub vermutet; denn dass dort seit Jahren satirisch und besorgt über Deutschland geschrieben wird und Essays wie die ca. 4000 des "micha vonRhein" unentgeltlich zur sofortigen politischen Orientierung zur Verfügung standen, gibt es nirgends sonst, nowhere. Warum nennt er es nicht? Vom Forum allgemein auf ein neues Bürgertum zu schließen, geht fehl. Weder das deutsche Identitätslied noch die virtuelle Gesinnungspartei, die Schillerpartei, fanden Mitstreiter. Individuen sollte man nicht hochrechnen, nur um als Protagonist einer Trendwende zu erglänzen, sagt der „wache, kritische, aktive und selbstverantwortliche Citoyen“, zur Zeit in Thailand, friert dort nicht.
17. März 2006 Spiegel Online
SCHWARZ-GRÃœNE ZUKUNFT Jamaika in der Beletage
Von Franz Walter
In kurzer Zeit könnte sich der Glanz der Großen Koalition verbraucht haben. Doch was kommt dann? Was ist das politische Modell der Zukunft? Folgt der Zusammenarbeit von Union und SPD eine neue Bürgerlichkeit im Gewand von Schwarz-Grün?
Göttingen - Man spürte regelrecht, noch in der niedersächsischen Provinz, die flirrende Erotik, als die Großdeuter des Politischen von Berlin-Mitte Ende September 2005 über eine Jamaika-Koalition spekulierten. Bereits Schwarz-Grün hatte in den Jahren zuvor die Phantasie der Medien in rhythmischen Zyklen bewegt. Derzeit indes scheint das Thema aus der Mode gekommen zu sein.
Ein wenig überraschend ist die gegenwärtige mediale Indifferenz schon. Natürlich: Schwarz-Grün steht im Frühling großkoalitionärer Verbundenheit nicht an. Aber andererseits: Ewig wird der Honeymoon nach dieser Elefantenhochzeit gewiss nicht währen. Überdies ist mindestens in den Feuilletons der Topos von der "neuen Bürgerlichkeit" gerade allgegenwärtig.
DDP
Jamaika-Fahne vor dem Bundestag: Rätselraten um das politische Zukunftsmodell
Die Zeitdiagnostiker konstatierten eine signifikante Zunahmen bürgerlicher Habitusformen, beraunen die kulturelle Hegemonie neubürgerlicher Ideologen...
von Paul Nolte (propagiert eine Schwarz-Grüne Zukunftspartnerschaft, kennt offenbar das Rheinsforum nicht) über Meinhard Miegel (pessimistische Sicht der demographischen Entwicklung, des Wandels der Arbeitswelt und der Kosten der sozialen Systeme, kennt offenbar das Rheinsforum nicht) bis hin zu Udo Di Fabio (Rekonstruktion "deutscher Nationalkultur als Kultur der Freiheit", an Gedanken Paul Noltes und Paul Kirchhoffs anknüpfend für einen Aufbruch in eine neue bürgerliche Epoche, in der Freiheit, Verantwortungsbewusstsein und vor allem Kinderliebe wieder gelten. - ich halte es für ausgeschlossen, dass der Bundesverfassungsrichter jemals in das Rheinsforum hineingeschaut hat).
Die Alt-68er-Mainstream-Mentalität, so heißt es, schwindet; sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Arbeitnehmermentalitäten verlieren an Resonanz und sozialem Rückhalt; neue, keineswegs traditionell konservative bürgerliche Denk- und Interpretationsweisen durchdringen demzufolge die geistigen und beruflichen Sphären der Republik.
Nach allen bisherigen Erfahrungen mit politischen Koalitionswechseln würde ein solcher Wandel von Einstellungen und Orientierungen in den Tiefenschichten der Gesellschaft im Zeitverzug auch die Voraussetzung für neue Konstellationen in der parlamentarisch-gouvernementalen Allianzbildung begründen. Dann aber wäre die neue Einheit des deutschen Bürgertums, wäre der Bogen vom grünen Neubürgertum bis zum schwarz-gelben Altbürgertum nach Ablauf der großkoalitionären Episode, in sagen wir: drei Jahren, das wahrscheinliche politische Zukunftsmodell.
Ganz und gar unvorbereitet käme schließlich die Wiedervereinigung des seit den sechziger Jahren kulturell zerfaserten Bürgertums und die neue Einsamkeit der Sozialdemokratie nicht. Schon seit 17 Jahren verweisen die - gewiss zunächst minoritären - Protagonisten einer Kooperation von Christlicher Union und Grüner Partei, als den beiden Polen des bürgerlichen Spektrums, auf den gemeinsamen wertekonservativen Vorrat. Grünen gehe es ebenso gut wie Christdemokraten um die Bewahrung der Schöpfung, um Subsidiarität, um Dezentralität, um die Selbstverantwortung des Individuums, um solide Finanzen, eine intakte Heimat, gesunde Umwelt.
Refrain der Stichwortgeber
Die SPD dagegen sei auf Kollektiv, Staat und Bürokratie fixiert, auf Begrenzungen der Autonomie des einzelnen Menschen aus. Stimmt mit meiner Auffassung im Rheinsforum in etwa überein.
Diesen Refrain singen seit Jahren die Stichwortgeber des Schwarz-Grünen. Ein paar Takte stammten ebenfalls vom unvermeidlichen Oswald Metzger und dem unruhig suchenden Heiner Geißler. Wenn es ihnen in das machtpolitische Kalkül passte, summten auch einige Landesfürsten der Union zwischen Saarbrücken und Düsseldorf, Stuttgart und Hamburg die eingängige Melodie leise mit. Und Renate Künast übt in jüngster Zeit ebenfalls.
Doch der Ausgangsort für schwarz-grüne Annäherungen lag in den letzten eineinhalb Jahrzehnten in unzerbrochenen bürgerlichen Lebenswelten. Grüne und Christdemokraten traten überall dort sporadisch miteinander in Kontakt, wo der Generationenkampf und Ideologiekonflikt der sechziger und siebziger Jahre nicht ganz so rigide ausgetragen wurde.
Das galt vor allem für Baden-Württemberg. Hier begegneten sich Christdemokraten und Grüne früher, häufiger und unverkrampfter als in den restlichen Regionen der Republik. Aber auch sonst sind die hochemotionalisierten innerbürgerlichen Auseinandersetzungen der siebziger Jahre, welche die Generationen gegeneinander getrieben hatten, mittlerweile beigelegt. Die intransigenten antisozialistischen Frontmänner der alten CDU haben ebenso die Bühne verlassen wie die grimmigen Ökofundamentalisten und militanten Antiimperialisten aus der Ära sendungsgläubiger neusozialer Bewegtheit.
Daher muss dann bei den in ihr bürgerliches Herkunftsmilieu heimgekehrten Grünen der Nach-Fischer-Trittin-Generation wohl nur noch der letztlich stets entscheidende Handlungsdruck der Arithmetik und der schwer zu widerstehende Lockruf einer zweiten machtpolitischen Option hinzukommen, damit irgendwo in einem Bundesland oder 2009 auf der Bundesebene eine schwarz-grün-(gelbe) Koalition gezimmert wird. Denn von der Arithmetik des Wahlausganges und der Chance der Machterweiterung geht der stärkste koalitionsbildende Impuls aus.
Schließlich war auch die Union während der neunziger Jahre immer dann offen für schwarz-grüne Planspiele, als die FDP aus den Landtagen flog und für sie als bis dahin einzige Koalitionspartei ausfiel. Und die Grünen haben spätestens 2005 final erfahren, dass sie die große Verliererin einer einseitigen gouvernementalen Verknüpfung mit der SPD sind. Und so werfen sie zwar noch scheue, aber erkennbar neugierige, in Einzelfällen auch bereits begehrliche Blicke auf die andere Seite des politischen Spektrums.
Koalitionspolitische Elastizität
Von der parlamentarischen Verortung her sind die Chancen der Grünen zu einer neuen koalitionspolitischen Beweglichkeit in mittlerer Perspektive auch keineswegs schlecht. Die Ökopartei bildet inzwischen so etwas wie die Scharnierstelle zwischen dem altbürgerlichen Lager auf der einen und einem höchst disparat gewordenen "linken" Lager auf der anderen Seite. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird 2009, sollte dann die Große Koalition wegen schwindender Harmoniegefühle nicht mehr fortgeführt werden, nur dasjenige Lager eine Mehrheit erhalten, das die Grünen beherzt mit ins Boot zieht.
Und doch tun sich die Grünen schwer, eine Politik der autonomen Offenheit für beide Lager virtuos zu vertreten. Denn sie ängstigen sich erkennbar vor dem Vorwurf der "Freidemokratisierung"; sie fürchten das Stigma der Beliebigkeit, sie scheuen den Vorwurf gesinnungsloser Machtverliebtheit, womit sich die Liberalen seit Erich Mendes Zeiten bekanntermaßen schwer zu plagen hatten.
Und ganz so einfach ist eine koalitionspolitische Elastizität nach allen Seiten hin in der Tat nicht. Lager bilden sich gesellschaftlich und politisch schließlich nicht ohne Grund. Sie bergen vielmehr lange, prägende historische Erfahrungen der sozialen Gegensätze, vor allem der kulturell aufgeladenen, dadurch von den Akteuren oft genug mit Verbitterung erinnerter Konfrontationen.
Allerdings: Keine Partei ist mittlerweile in soziologischer Perspektive bürgerlicher als die Grünen. Ihre Anhänger beziehen in Deutschland die höchsten Gehälter; ihre Wähler sind weit akademischer als der Rest des Elektorats; ihre Sympathisanten steigen häufiger als alle anderen zu langen und ausgiebigen Urlaubsreisen in die Flugzeuge dieser Welt. Von der dürftigen Lebenswelt der Arbeiter und Arbeitslosen dieser Republik sind die üppig alimentierten Postmaterialisten aus der Kuhn-Künast-Partei so weit entfernt wie keine Parteimitglieder und -wählerschaft sonst.
Mitschuld am Dilemma der SPD
Insofern gehören die Grünen nicht nur zum deutschen Bürgertum. Sie inkarnieren vielmehr gar ihre elitäre Ausprägung. Aber gerade darin liegt das Problem für neue bürgerliche Bündnisse, da die Christliche Union eben sehr viel weniger bürgerlich ist, sehr viel weniger modern, urban, postindustriell und säkularisiert. Die Heimaten der Union liegen stattdessen im ländlichen Bereich, in kirchennahen Schichten, bei Zugehörigen des primären Sektors.
Die Grünen hingegen sind die großstädtische Partei schlechthin. Ihre Wähler arbeiten dienstleistend, sind überwiegend entkonfessionalisiert. Im grünen Umfeld gilt die Zustimmung zur nahezu beliebigen Erweiterung der Europäischen Union als pure kosmopolitische Selbstverständlichkeit; an der Basis der Union überwiegt demgegenüber die Furcht davor und die Abwehr dagegen. So sind also die materiell überdurchschnittlich gesättigten, hochgebildeten, exklusiv individualistisch durchwirkten Lebenskreise der Grünen mittlerweile zu abgehoben, zu elitär, ja: zu bourgeois für das weit grasverwurzeltere, kleinbürgerliche, formal weniger qualifizierte juste milieu der Christdemokraten.
Nicht zuletzt der Elitismus der Grünen hat die Sozialdemokraten während der Koalition Schröder-Fischer von den Arbeitern entfremdet, was eine entscheidende Ursache für die verheerenden Niederlagen der SPD bei zahlreichen Landtagswahlen war und letztlich zur Hausse der Linkspartei seit 2004 kräftig beigetragen hat. Dergleichen müsste ähnlich auch die Union fürchten, sollte sie dereinst den Tanz mit den Grünen aus der Beletage der deutschen Gesellschaft wagen.
Für weite Teile der Bevölkerung gelten die Grünen nun einmal als Partei arrivierter Menschen, die in puritanischer, doch höchst doppelzüngiger Manier Wasser predigen, in ihren schicken Altbauwohnungen währenddessen aber edle und teure Sancerres und Brunellos schlürfen. Deswegen sind Grüne, Postmaterialisten, Bioladenkunden, ist das Neubürgertum gerade in den Arbeiterquartieren und im sozial verängstigten Kleinbürgertum besonders unbeliebt.
Insofern ist jede Koalition mit ihnen für eine Volkspartei mit plebejischen Traditionen und noch verbliebenen Sozialverwurzelungen auch in den Untergeschossen der Gesellschaft ganz unzweifelhaft riskant. Und daher ist es eben doch nicht so gewiss, dass am Ende der großkoalitionären Brückenjahre ein bürgerlich-buntes Jamaika in die graue deutsche Republik einziehen wird.
Franz Walter ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. Von ihm ist gerade auch das Buch "Die ziellose Republik" bei Kiepenheuer&Witsch erschienen.
Bürgertum sucht man nicht in Parteien. Parteien sind dazu da, das Bürgertum zu unterstützen, zu schützen, wenn regiert wird, mitzuhelfen, dass Steuern gespart und im Sinne der Bürger ausgegeben werden. Der Irrtum des Artikels besteht darin, Partei-Schicki-Micki mit Bürgertum zu verwechseln, „sie inkarnieren vielmehr gar ihre elitäre Ausprägung“. Das gute Leben auf dem Steuersack ganz allgemein, das dann und wann parasitäre Formen annimmt, ist schlicht Missbrauch des Bürgertums. Parteien, Parlamente und der parteiendurchsetzte Verwaltungsapparat des Staates haben sich vom Bürger gelöst, verselbständigt und erwecken den Eindruck, nun selbst die maßgebende Bürgerschaft zu sein. Diese Arroganz führt dazu, diktatorisch an allen Ecken und Enden Bürger zu reglementieren, mit immer mehr indirekten Steuern und immer mehr angeblich sinnvollen Ordnungsstrafen zu belegen und politische Ziele mit Teuerungen erreichen zu wollen.
Die im Artikel umworbenen Grünen, angeblich intellektuelle großstädtische Führungsschicht, erkenne ich eher als eine rücksichtslose Partei, die dem Bürgertum eine unverantwortliche Teuerung gebracht hat. So sollte zum Beispiel eine Reduzierung der Abgase durch Verteuerung der Benzinpreise erreicht werden. Eine ideologisch verhärtete Verlagerung auf Ökoenergien kostete das Bürgertum Milliarden über Milliarden Euro. Richtig wäre gewesen, preiswerte Energiequellen auszuschöpfen und gleichzeitig alternative Energien für die Zukunft zu fördern.
Die Grünen sind die Partei des wirtschaftlichen Abstiegs und der Verteuerung in Deutschland. Sie als „neues Bürgertum“ zu klassifizieren, erscheint wie blanker Hohn.
Dass ein Politwissenschaftler in Parteisphären argumentiert, mag verständlich sein, dass er das eigentliche parteilose Bürgertum einfach ignoriert, mag mit einem Hang hin zu den Entscheidungsträgern, den Allmächtigen der Budgets, der Zuschüsse und Subventionen zusammenhängen, weg von der Masse der machtlosen Bürger. Aber allein dort ist das wie immer geartete Bürgertum in allen seinen Facetten zu suchen. Der Artikel bekommt von mir das Prädikat „besonders mangelhaft“.
„Neue, keineswegs traditionell konservative bürgerliche Denk- und Interpretationsweisen durchdringen demzufolge die geistigen und beruflichen Sphären der Republik“, hieß es bei DDP. Der Hauptartikel von Franz Walter macht den Fehler, das Raunen über ein „neues Bürgertum“ geradezu devot auf die Partei der Grünen zu übertragen.