NS-VERGANGENHEIT IM AUSSENAMT
Ende der Vertuschung
Von Ralf Beste und Christoph Schult
Mit ihrem Aufstand gegen den Außenminister haben deutsche Diplomaten das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollten. Plötzlich wird klar, dass kein Ministerium die Verstrickung in die Verbrechen des Nazi-Regimes so perfekt verdrängt hat wie das Auswärtige Amt.
Die Konfrontation mit der Geschichte lässt sich präzise lokalisieren. Es war im ersten Stock des Westflügels, dort, wo die Protokollabteilung des Auswärtigen Amts residiert. Joschka Fischer schlenderte über den langen Flur, als er an den Wänden die Fotos der deutschen Protokollchefs entdeckte - von 1920 bis heute.
Neugierig trat der Minister näher und betrachtete die Reihe der dunkel gewandeten Herren. Bei einem stutzte er. Da hing Alexander Freiherr von Dörnberg, ein Duzfreund von Nazi-Außenminister Joachim von Ribbentrop.
Fischer war empört. "Wie stellen Sie sich das vor", schnauzte er seinen Protokollchef an, "soll ich mir auf meinem Flur etwa auch den Ribbentrop aufhängen?"
Der letzte Außenamtschef des "Dritten Reiches" wurde am 16. Oktober 1946 als Kriegsverbrecher hingerichtet. Das hält deutsche Diplomaten nicht davon ab, noch sechs Jahrzehnte danach einigen der leitenden Beamten ein ehrendes Andenken zu bewahren; in Berlin - oder auch in der afghanischen Hauptstadt Kabul, wo der Gesandte Hans Pilger ab 1937 die Interessen des "Führers" am Hindukusch vertrat. Bei Kriegsende musste er ausreisen und wurde von den Sowjets 13 Monate lang in Einzelhaft genommen.
Inzwischen nimmt Hitlers Mann in Kabul wieder einen besonderen Platz ein.
Was lange als Selbstverständlichkeit galt, ist inzwischen mit Verve in die Kritik geraten. Die eigenwillige Traditionspflege in Deutschlands Elitebehörde erregt nicht nur die Öffentlichkeit - sie spaltet auch die Angehörigen des Auswärtigen Amts.
Im Zentrum der Auseinandersetzung steht der politisch durch die Visaaffäre angeschlagene Joschka Fischer, der in einer einsamen Entscheidung festgelegt hatte, verstorbenen Diplomaten generell keinen ehrenden Nachruf mehr zu gewähren, wenn sie Mitglied der NSDAP gewesen waren. Selten hat ein Ministerbeschluss zu so heftigen Reaktionen im Amt geführt.
Nach zahlreichen Pensionären rebellieren inzwischen auch viele aktive Bedienstete. In einem Brief, der umgehend in der "Bild"-Zeitung abgedruckt wurde, forderte der Berner Botschafter Frank Elbe seinen Chef auf, ein "Zeichen der Versöhnung" zu setzen. 76 Mitarbeiter des Amts warfen Fischer in einem Leserbrief für die Hauspostille "internAA" "anmaßende Selbstüberschätzung" vor. Und der ehemalige Botschafter Dietrich von Kyaw wetterte gar vor laufender Kamera: "Man muss da sehr aufpassen, weil man sich damit selbst als Deutscher kastriert."
Doch die ungewöhnlichen Attacken aus dem sonst so zurückhaltenden Diplomaten-Korps erreichen womöglich das genaue Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatten. Immer stärker richtet sich jetzt der Blick der Öffentlichkeit auf die braune Vergangenheit einer Behörde, deren Angehörige sich in den zwölf Jahren des NS-Regimes als meist loyale Stütze erwiesen.
Jahrzehntelang hat das Amt die eigene Vergangenheit verdrängt. Wohl keiner Bundesbehörde ist es so gründlich gelungen, die Kontinuität von Personal und Institution über das Jahr 1945 hinweg gleichermaßen zu wahren und zu verschleiern.
Zum einen wurden zahllose Diplomaten, die unter Hitler Dienst getan hatten, nach der Neugründung des Amts 1951 wieder eingestellt. Auf der anderen Seite gelang es der offiziösen Selbstdarstellung, den eigenen Anteil an deutschen Verbrechen so weit wie möglich zu relativieren.
In der kollektiven Rückbetrachtung des Auswärtigen Dienstes galten die Nazis als fremde Eindringlinge, die den Apparat des Amts skrupellos für ihre verbrecherischen Ziele ausgenutzt hatten. Die Diplomaten hingegen sahen sich als aufrechte Deutsche, die allenfalls aus Karrieregründen der Nazi-Partei beigetreten waren und nur im Ausnahmefall - leider, leider - etwas kollaboriert hatten.
Und so glaubte man lange Zeit keinen Grund zu haben, Geschichtswissenschaftlern den Zugang zu den eigenen Archiven zu erleichtern. "Die Akten waren immer zufällig in der Bearbeitung", erinnert sich der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler an die sechziger Jahre. Sein Osnabrücker Kollege Hans-Jürgen Döscher musste eigens nach Amerika reisen, um dort die Mikrofilm-Kopien von Personalakten zu studieren, deren in Bonn liegende Originale er nicht einsehen durfte.
Der Freiburger Geschichtsprofessor Ulrich Herbert konstatiert eine "jahrzehntelang betriebene systematische Politik" der "Verharmlosung und Vertuschung" von NS-Verbrechen im Auswärtigen Amt. Die Diplomaten sträubten sich gegen die Erkenntnis, "dass ihr Amt eine Dienststelle im NS-Unrechtsregime war", sagt Döscher, der über die Nazi-Verstrickung von AA-Angehörigen zwei Bücher schrieb.
Als Hitler 1933 die Macht übernahm, arbeitete das Amt weiter, als wäre nichts geschehen. In Washington reichte Botschafter Friedrich von Prittwitz und Gaffron zwar seinen Rücktritt ein, doch die meisten Diplomaten entschieden, im Job zu bleiben.
Mit dem Einzug Ribbentrops, der 1938 zum Minister aufstieg, verstärkten die Nazis ihren Einfluss, und mit Kriegsbeginn wurde die Behörde bei der "Lösung der Judenfrage" immer wichtiger. Das Amt habe, schreibt der amerikanische Historiker Christopher Browning, "einen signifikanten Beitrag zur letzten Phase der Judenpolitik, nämlich der Endlösung, geleistet".
Der Außenminister installierte seinen Vertrauten Martin Luther als mächtigen Unterstaatssekretär, der die Kontakte zum Terrorapparat von SS und Polizei aufbaute. Dessen Intimus, der 34-jährige Leiter des Judenreferats, Franz Rademacher, erarbeitete mit seinem Kollegen bei der Gestapo, Adolf Eichmann, das "Madagaskar-Projekt".
Danach sollten die osteuropäischen Juden im polnischen Lublin gesammelt und westeuropäische auf die afrikanische Insel verfrachtet werden.
Die Idee scheiterte, doch Rademacher ließ sich nicht beirren. Als der in Prag wütende SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich im November 1941 zum ersten Mal die Spitzenbeamten der Reichsbehörden zur berüchtigten Wannseekonferenz einlud, listete der eifrige Beamte die "Wünsche und Ideen des Auswärtigen Amts zu der vorgesehenen Gesamtlösung der Judenfrage in Europa" auf - "wie bisher im guten Einvernehmen mit der Geheimen Staatspolizei".
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Vom Protokoll der Wannseekonferenz, bei der die "Endlösung der europäischen Judenfrage" koordiniert wurde, existiert nur noch eine der ursprünglich 30 Ausfertigungen. Sie liegt im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts und dokumentiert, wie Luther die Expertise seines Hauses anbot: Eine "tiefergehende Behandlung dieses Problems in einigen Ländern, so den nordischen Staaten", könne zu "Schwierigkeiten" führen. "Dafür sieht das Auswärtige Amt für den Südosten und Westen Europas keine großen Schwierigkeiten."
Das Ministerium zeigt das historische Dokument nur ungern vor. Ein Katalog von 1997 mit den interessantesten "Zeitzeugnissen" der deutschen Außenpolitik lichtet zwar stolz das faksimilierte Rücktrittsschreiben des Washingtoner Botschafters von 1933 ab, unterschlägt aber das Wannseeprotokoll.
Dabei ging die Verstrickung des Amts weit über eifernde Nazis wie Rademacher und Luther hinaus. Im März 1942 organisierte die Gestapo die Deportation der ersten 6000 französischen Juden nach Auschwitz. Eichmann ersuchte per Schnellbrief die "Zustimmung" des AA. Mit bürokratischer Gründlichkeit leiteten Luther und Rademacher den Antwortentwurf durch alle Instanzen - bis hinauf zum regimekritischen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, dem Vater des späteren Bundespräsidenten.
Weizsäcker protestierte nicht. An die Stelle der Rademacherschen Formulierung, nach der das Amt "keine Bedenken" gegen die Deportation habe, setzte er den Vermerk: "Kein Einspruch". In Nürnberg wurde er wegen seiner Billigung der Judendeportation zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, 1950 dann aber begnadigt.
Nach dem Krieg registrierte Konrad Adenauer misstrauisch, wie sich rasch wieder die alten Seilschaften bildeten. "Sie vom AA halten mir zu sehr zusammen. Sie wissen, dass ich ein neues Amt aufbauen möchte, das mit den alten Leuten möglichst wenig zu tun hat", sagte der Kanzler schon 1949 seinem Vertrauten Herbert Blankenhorn, der ebenfalls Mitglied der NSDAP gewesen war und 16 Jahre in der Wilhelmstraße gedient hatte.
Doch der ließ sich nicht verunsichern. Anders als Adenauer es gehofft hatte, placierte Blankenhorn zielstrebig ehemalige Parteimitglieder im Amt. Experte Döscher zählt allein in der Politischen Abteilung 13 Ex-Nazis unter den höheren Beamten, in der Rechtsabteilung waren es 11 von 17.
Die braune Beamtenschwemme blieb nicht unbemerkt. Die "Süddeutsche Zeitung" klagte über ein "kräftiges Über-Soll an allzu glatten, wo nicht gar skrupellosen Fachleuten". Im September 1951 prangerte die "Frankfurter Rundschau" reihenweise umstrittene Personalien an - etwa die Ernennung des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Herbert Dittmann ausgerechnet zum Personalchef des Amts.
Kurz darauf setzte der Bundestag auf Antrag der SPD einen Untersuchungsausschuss ein. Dittmanns Vorgänger als Personalchef, Wilhelm Haas, beteuerte in der Vernehmung, er habe nur zuverlässige Demokraten eingestellt - und gerade deshalb vor allem auf ihm persönlich bekannte Kräfte gesetzt. Im Übrigen, beschwichtigte er, hätten "Italien und Japan den diplomatischen Beamtenkörper der Kriegs- und Vorkriegszeit fast geschlossen übernommen".
Die Abgeordneten waren nicht beeindruckt. "Es gibt kein Bundesministerium", urteilte der SPD-Parlamentarier Fritz Erler, "das in dieser Weise die Kontinuität der Berliner Tradition fortsetzt wie das Auswärtige Amt."
Dabei zogen Ex-Nazis auch in andere Behörden ein - vor allem bei der Justiz. Allein in Bayern waren vier Jahre nach Kriegsende von 924 Richtern 752 ehemalige NSDAP-Mitglieder. Selbst unter dem NS-Regime gefällte extreme Urteile stellten kein Karrierehindernis dar.
So hatte der Jurist Friedrich Mattern im September 1942 als Beisitzer eines Sondergerichts in Brünn vier Tschechen zum Tode verurteilt - 1958 wurde er Bundesrichter in Karlsruhe. Sein Kollege Willi Geiger, der im "Dritten Reich" als Staatsanwalt beim Sondergericht Bamberg mindestens fünf Todesurteile durchgesetzt hatte, stieg 1951 sogar zum Bundesverfassungsrichter auf.
Im Bonner Justizministerium arbeitete in der Nachkriegszeit der Ministerialdirigent Ernst Kanter, der als oberster Richter beim Befehlshaber der Besatzungstruppen in Dänemark an mindestens 103 Todesurteilen gegen Widerstandskämpfer beteiligt gewesen war.
Auch im Bundesfinanzministerium fanden alte Nazis bald einen Platz. Der Historiker Götz Aly nennt in seinem neuen Buch "Hitlers Volksstaat" zwei Beamte, die bereits dem NS-Staat gedient hatten: Paul Hahn, der als Deutscher Kommissar bei der Griechischen Nationalbank das Geld dort lebender Juden beschlagnahmt hatte, und Oberregierungsrat Walter Bußmann, der im Reichsfinanzministerium die "Judenvermögensabgabe" organisiert hatte.
Die Politik der alliierten Entnazifizierung traf letztlich nur die führenden Nationalsozialisten. Die große Mehrheit der Mittäter und Mitläufer dagegen wurde 1951 rehabilitiert. Etwa 350.000 ehemalige Beamte und Berufssoldaten erhielten so einen Anspruch auf Wiedereinstellung. "Mit der Nazi-Riecherei muss Schluss sein", begründete Konrad Adenauer 1952 die Generalamnestie.
Trotz seiner Aversion gegen braune Diplomaten im Auswärtigen Amt duldete der erste Kanzler der Republik in seiner Regierung Männer mit einer ähnlichen Vergangenheit. Der Kommentator der NS-Rassengesetze, Hans Globke, diente ihm als Kanzleramtschef. Adenauers Vertriebenenminister Theodor Oberländer war ein Nazi der ersten Stunde. Bereits 1923 war er mit Hitler auf die Münchner Feldherrnhalle marschiert.
Seine Personalpolitik rechtfertigte der regierende Christdemokrat mit dem angeblichen Mangel an unbelasteten Beamten: "Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat."
Doch was das Auswärtige Amt von allen anderen Ministerien unterscheidet, ist die selbsterklärte Kontinuität über alle Regime hinweg. So brach das Bundesinnenministerium 1949 formell mit jeder Tradition des Reichsministeriums des Innern und des Reichssicherheitshauptamts, während das Bundesjustizministerium die dunkle Vergangenheit des eigenen Ressorts in den achtziger Jahren offen legte.
Der Präsident des Bundesgerichtshofs, Günter Hirsch, rechnete 2002 mit einem besonders krassen Justizskandal der NS-Zeit ab, bei dem der Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi im April 1945 von einem SS-Standgericht zum Tode verurteilt worden war. Die beteiligten Richter, die nach 1945 zunächst bestraft worden waren, hatte Karlsruhe 1956 wieder freigesprochen. "Für dieses Urteil des Bundesgerichtshofs, an dem im Übrigen ein Richter mitgewirkt hat, der im Dritten Reich Beisitzer eines Sondergerichts war, muss man sich schämen", erklärte Hirsch.
Die Gründer des "Auswärtigen Amtes" legten dagegen Wert darauf, selbst den alten Namen zu bewahren. So groß ist die Identifizierung der Diplomaten mit der Behörde, dass das Amt in den umstrittenen Nachrufen gar als Subjekt auftaucht - wie ein Mensch, der andere in "ehrendem Andenken" behält.
Geht es nach Fischer, soll mit der Vertuschung jetzt Schluss sein. In der vergangenen Woche signalisierte der Minister bei Gesprächen mit dem Personalrat und den Abteilungsleitern seine Bereitschaft zu einer Aufarbeitung durch eine unabhängige Historikerkommission - wenn denn das Verlangen danach aus der Belegschaft komme.
Noch diesen Monat treffen sich die Mitarbeiter des Hauses zur Personalversammlung. Fischer hofft, dass die Debatte über die Nachrufe dann in einen Ruf nach Aufklärung mündet.
Zu viele haben aktiv mitgeholfen. Ausgerechnet Deutsche einer studierten Karriere-Schicht ließen sich für die "Endlösung" einspannen, die auf Geheiß Hitlers in der Wannseekonferenz bürokratisch konkretisiert wurde. Die paraktische Folge dieser Beschlüsse war das unglaubliche Mordprogramm der Schoah, das Millionen Einzelschicksale besiegelte.
Wie konnte es sein, dass diese Einzelschicksale ohne jedes Erbarmen hingenommen wurden?