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Die Zusammenfassung von Rudolf Augstein mit wenigen ausgewählten Zeitdokumenten, meist originalen Filmausschnitten, sollte noch ein wenig beschäftigen. Seine Aussage ist ein Vermächtnis. Sein Wochenblatt "Der Spiegel", wird durch dieses Vermächtnis eigentlich erst voll verständlich. Selten ist es einem Journalisten wohl so gut gelungen, die deutsche jüngste Geschichte zu stemmen und gegen das historische und möglicherweise zukünftige Staatsverbrechen letztlich so erfolgreich zu wirken. Jetzt, nach seinem Tod, trägt die Energie dieses Mannes Früchte, indem der Spiegel die Themen zur Geschichte des Nationalsozialismus mutig aufgreift und sich nicht scheut, nach den Wahrheiten zu suchen, auch wenn Deutschland dabei scheinbar verliert.
Fast verzweifelt erinnert Augstein an die rednerischen und organisatorischen Begabungen Hitlers. Er beschreibt dessen unbestreitbare taktische Leistung, die Macht legal, mit der Betonung auf legal, errungen zu haben. Die katholische Zentrumspartei half ihm dabei.
Der 30. Januar 1933 war die Wende zum voraussehbaren Untergang für viele Millionen auf allen Seiten. Die Deutschen merkten es nicht. 1936 schien nach den Worten Augsteins Otto Normalverbraucher auf einer Welle nationalen Glücks zu schweben. Kleine Unschönheiten nahm er in Kauf. "Wo gehobelt wird, fallen auch Späne", sagten sich die Leute und wollten nur das Positive sehen. Sie sahen eine Art Errettung Deutschlands aus den existenziellen Tiefen vergangener Jahre und ließen sich zu einer aktionistischen Euphorie animieren.
Das Ausland machte Hitler Konzessionen, wie es sie keinem anderen Politiker gemacht hätte. Man versuchte, durch Nachgeben drohendes Unheil abzuwenden. Die Anfangserfolge Hitlers, vor allem die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, wollte man im Ausland zum Teil imitieren. Sie wurde mit der Aufrüstungsmaschinerie beseitigt. Diese Erkenntnis kam später.
Alles Entgegenkommen nützte nichts. Augstein zog deshalb den Schluss: Wenn es jemals in der Geschichte an einem Mann gelegen habe, ob ein Krieg begonnen wurde oder nicht, dann hier. Hitler wollte den Krieg um jeden Preis. Darüber vergaß er das Rechnen. Man folgte einem Spieler mit nur 50prozentiger Gewinnchance.
Später in seiner Zusammenfassung wird Augstein die preußische Monokelgeneralität und auch den verspäteten deutschen Widerstand geißeln, selbst den Kopf des Widerstandes, Claus Graf Schenk von Stauffenberg, nahm er als langzeitigen Dulder nicht aus. Von Stauffenberg sei auch überfordert gewesen, da er Ausführung und Organisation zusammen übernommen habe.
Möglicherweise hat die Kritik am Widerstand dazu geführt, dass die Zusammenfassung von Augstein, sein Vermächtnis wie ich deute, eine mediale Seltenheit wurde und eher intern, innerhalb seines Blattes, die Ausrichtung bestimmte.
Augstein erschien der Kriegswahn Hitlers als etwas völlig Neuartiges in der Geschichte, nicht zu vergleichen mit der intellektuellen Intention Napoleons zum Beispiel. Das Ziel Hitlers, Lebensraum im Osten mit Kampf gegen den Bolschewismus zu verbinden und die Juden aus Europa, und in der Phantasie auch aus Amerika, zu vertreiben, war Teil dieser Andersartigkeit. Sie wird unterstrichen, meint Augstein, weil sich Hitler als Wolf gefiel, Wolfsschanze bis Wolfsburg etc., somit in sich ganz offensichtlich das gnadenlose Tier sah, der seine Feinde reißt, während er im engeren Bekannten- und Familienkreis den guten Onkel abgab, der Kinder nach ihrer "germanischen" Gesundheit beurteilte und unter solchen Gesichtspunkten tätschelte.
Soweit zu Rudolf Augstein, dessen kluge Analyse ich im Zusammenhang mit immer mehr Zeugnissen sehe, die in Zeitungen und im Fernsehen auftauchen.
So sah ich gestern einen Film über Eva Braun. Sie filmte damals mit einer Farbfilmkamera. Die Filmdokumente sind wohl die einzigen, die Hitler und seine Paladine auf seinem "Berghof" auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden in nicht offiziellen Ausschnitten zeigen. Auch Aussagen und Dokumente wurden gezeigt. In privaten Bekenntnissen bezeichnete Eva Braun Hitler mehrfach als ihren Geliebten, war um ihn, den mächtigsten Politiker auf internationaler Bühne, wie sie meinte, rührend besorgt, ohne auch nur im Geringsten politisch nachzufragen, was überhaupt geschah. Der „Führer“ hier, die geliebte Privatperson da, diese beiden Extreme waren für sie völlig unterschiedliche Welten, von denen sie sich nur für die letztere interessierte.
Die wackeligen Filmausschnitte machen zwei Details gegenwärtig, die mir besonders erwähnenswert erscheinen. Zum einen sieht man Himmler im Gespräch mit Reinhard Heydrich. Fotos verfälschen, ungestellt gefilmte Eindrücke sagen mehr. Beide sind in meinen Auge ausgesprochen unsympathische Typen, der Beamte Himmler mit seinen hängenden Schultern, seiner etwas krummen Haltung, ebenso wie Heydrich als junger Karrierist, dessen Gesichtszüge und dessen Ausdruck bereits negativ, in Richtung absoluter Gefühlskälte, verformt erscheint.
Der zweite Film-Ausschnitt, der mir aufschlussreich erschien, zeigt Szenen kurz vor dem geplanten Nichtangriffspakt mit Russland. Zur Erinnerung zwei Auszüge aus Wikipedia als Zitat:
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Der Begriff Hitler-Stalin-Pakt bezeichnet den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der am 23. August 1939 in Moskau von dem deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop und dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw M. Molotow unterzeichnet wurde. Er sah neben den Nichtangriffsklauseln auch die gegenseitige Neutralität im Kriegsfalle der anderen Partei vor.
In einem geheimen Zusatzprotokoll legten die Länder die Aufteilung Nord- Ost- und Süd-Europas fest, sofern es zu einer "territorialen Umgestaltung" kommen sollte. Polen sollte dabei längs der Flüsse Narew, Weichsel und San geteilt werden. Die Deutschen bekundeten kein Interesse an Bessarabien (heute Moldawien). Die baltischen Staaten – mit Ausnahme Litauens – sowie Finnland sollten in den russischen Interessensbereich übergehen. In diesem Zusatzprotokoll wurde außerdem vereinbart, dass die deutschen Bevölkerungsgruppen aus der russischen Interessensphäre zwangsweise umgesiedelt werden sollten (Bessarabiendeutsche, Baltendeutsche, Bukowinadeutsche).
Das Resultat des Paktes war, dass nach der Eroberung Polens (ungefähr 4 Wochen nach dem Angriff Anfang September) die Deutschen und die Sowjets ihre Grenzen verschieben konnten. Allerdings war die deutsch-sowjetische Teilungslinie durch eine weitere Vereinbarung vom 28. September 1939 dahingehend abgeändert worden, dass nunmehr auch Litauen in den sowjetischen Interessensbereich fallen sollte, während dafür die Grenze in Polen zu Gunsten von Deutschland von der Weichsel nach Osten an den Bug verschoben wurde.
Als Folge des Paktes stellte die Sowjetunion 1940 an Rumänien ein Ultimatum, infolge dessen sie Bessarabien und den Nordteil der Bukowina (heute Teil der Ukraine) annektierte. Auch die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen wurden 1940 besetzt und der Sowjetunion einverleibt.
Am 22. Juni 1941 brach Hitler den Pakt mit dem Angriff auf die Sowjetunion.
Nach dem Überfall Deutschlands auf Russland am 22. Juni 1941 trat Russland an der Seite der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg (in Russland Großer Vaterländischer Krieg genannt) ein. In den ersten Kriegsmonaten verlor die Rote Armee drei Millionen Soldaten, große Teile der westlichen Landesteile wurden verwüstet, später bei der Belagerung Leningrads verhungerten über eine Million Zivilisten. Bei Moskau (Winter 41), Stalingrad (Winter 42/43) und Kursk (Sommer 43) fügte die Rote Armee den deutschen Truppen schwere Niederlagen zu und eroberte schließlich im Mai 1945 Berlin.
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Die meisten Deutungen dieser Fakten, die vielleicht noch besser hier nachzulesen sind,
http://www.shoa.de/content/view/152/51/ sind, bringen Hitler in die Nähe eines machtpolitischen Strategen, der ein Vertragswerk knüpft, um Polen gefahrlos annektieren zu können. Diese naheliegenden Deutungen halte ich nur für die halbe Wahrheit.
Kälte wissenschaftlicher Geschichtsschreibung mit Fakten und Zahlen mag notwendig sein. Aber damit mag ich mich nicht begnügen. Wenn ich lese „später bei der Belagerung Leningrads verhungerten über eine Million Zivilisten“, dann denke ich lieber an Einzelschicksale, zum Beispiel an meine vor einigen Jahren verstorbene, von mir sehr geliebte mütterliche Freundin Lada Nikolenko, Autorin in meinem kleinen Miniverlag, die Leningrad innerhalb der Belagerung überstand. Wenn ich einen Film, gedreht von Eva Braun, zu sehen bekomme, der die Aufregung der Akteure kurz vor dem Hitler-Stalin-Pakt deutlich macht, dann versuche ich lieber, die eigentliche Wahrheit in Verbindung mit solchen persönlichen Dokumenten zu ergründen.
Zu welchem Schluss komme ich nach diesem Dokument? Es hat wohl nur noch ein einziges Ereignis gegeben, das eine ähnliche fiebrige Aufregung erzeugte, nämlich als Hitler Reichskanzler wurde. Hermann Göring, der die neue Rolle wie auch Hitler noch kaum glauben konnte, stolzierte wie ein Pfau durch das Kabinett. Die Stimmung nach der Einwilligung Stalins, einen Vertrag tatsächlich abschließen zu wollen, war ebenfalls fast ungläubige Aufgeregtheit, so als ob damit das Ziel aller Wünsche erreicht worden sei. Ich denke, dass Hitlers Stimmung auch hier bestimmend war und sich auf die anderen Anwesenden wie auf Ribbentrop übertrug.
Die beiden Ereignisse lassen zwei Schwerpunkte in ihrer Bedeutung für Hitler selbst erkennen: 1. Ich bin an der Macht, 2. Ich habe freie Hand im Osten.
Was war nun aber der Grund für soviel aufgeregte Freude nach dem jeweiligen unerwarteten Erfolg? Die geheimen Ziele Hitlers standen bei ihm selbst noch auf unsicheren Füßen. So muss es einfach gewesen sein. Es kann gar nicht anders gewesen sein. Hitler hatte Unmögliches vor, anders als Alexander der Große, Friedrich der Große, Napoleon war sein Ziel etwas absolut „Unmögliches“, die Vernichtung der Juden. Sie war für Hitler nur möglich in einem Krieg, im Ausnahmezustand mit absoluter Befehlsgewalt, militärischer und richterlicher. Auf dem Weg dorthin kam er durch die beiden Ereignisse jeweils einen großen Schritt weiter. Nun fühlte er sich sicherer. Seinen Generälen spielte er vor, er wolle Lebensraum, Eroberung, mehr erreichen als einst Bismarck. Und diese militärischen „Monokelpreußen“, wie Augstein abfällig meinte, glaubten sofort an Ehre und Vaterland, an eine siegreiche Fortsetzung des Ersten Weltkrieges „für“ das deutsche Vaterland, „für“ die Nation und ihr Recht.
Die Lüge Hitlers, heimlich unterstützt durch besondere Paladine wie Himmler und Heydrich, die ergeben und skrupellos genug waren, kam in der Realität in Konflikt mit einer anderen Realität, der nationalistischen Euphorie und dem plötzlichen Ausbruch eines neuen Vaterlandsglaubens. Viele Offiziere kamen mit diesem Konflikt nicht klar, sahen das Morden, versuchten Hitler umzustimmen, Befehle der SS über Hitler zu umgehen, erfolglos natürlich, und begingen Selbstmord. Das Hindurchdringen der Lüge Hitlers war mit wachsender Brutalisierung verbunden. Die Propaganda Goebbels des reinen Vaterlandglaubens, der in diesem Krieg fälschlicherweise einen Katalysator der Wahrheit sah, bestätigte den guten Glauben, die „unmögliche“ Realität zwang zum Wegschauen, weil völlig verschiedene Lebensziele sich wie Plus und Minus gegenseitig abstießen.
Nicht das Wegschauen war die Lösung, sondern das Tier, den reißenden Wolf, zu beseitigen, war sie.